Jean-Christophe Ammann

Sandra Vásquez de la Horra

„Es kommt vor, dass ich meiner Füße und Nägel überdrüssig bin, und meines Haares und meines Schattens. Es kommt vor, dass ich müde bin, Mensch zu sein.“

Pablo Neruda (1904–1973), aus ,walking around‘.

Sandra Vásquez de la Horra beschichtet das Papier, auf dem sie arbeitet, mit Wachs. Da- durch erhält der Strich eine Tiefenschärfe. Der sanfte Glanz der Oberfläche schafft einen Hauch von Resonanz. Die Wachsbeschichtung ist, vergleichbar mit der Qualität eines Papiers, Teil des zeichnerischen Prozesses. Der Strich von Sandra Vásquez de la Horra ist weich und bestimmt. Er besitzt im unterschiedlich artikulierten Strichfeld eine Tonalität, die einen Klangraum evoziert.

Die Zeichnung ist durch und durch körperlich. Es ist der Körper, der Zeichen schafft. Die Zeichen sind durchdrungen von Körperlichkeit. Es ist der Körper der denkt, der abstrahiert, konstituiert, der den Transfer von Emotion jedes Mal in ein subjektives, stärker noch: intimes Erlebnis fokussiert. Das Phantasmagorische ist wahrhaftig, geradezu und heimlich authentisch, weil in der Gegenwart des Zeichnens erlebt und gelebt. Und den- noch ist da eine Distanz vorhanden, eine innere wie bei einem nachempfundenen Traum. Träume, die auch in Traumata münden können. Sandra Vásquez de la Horra wurde 1967 in Viña del Mar in Chile geboren, erlebte als Kind und junge Frau die Diktatur von Pinochet, die mehr als 3000 Menschen das Leben gekostet hat. Auch wenn die Künstlerin häufig Vorlagen von überall her verarbeitet, so docken sich diese doch in der Erinnerung an Ereignisse an, welche die Biografie prägen und geprägt haben.

Als ich die Zeichnungen von Sandra Vásquez de la Horra zum ersten Mal sah, spürte ich sie mehr, als dass ich sie sah. Ich spürte sie unter der Haut. Eigentlich wusste ich gar nicht, was sich motivisch auf den Blättern abspielte. Ich wurde von einem Energiefeld gepackt, das mich nicht mehr losließ. Dies, mitten auf der Kunstmesse in Köln im Jahr 2006. Man gelangte in einen Raum voller Zeichnungen und damit in einen Sog, der wie eine emotionale Überblendung wirkte. Sandra Vásquez de la Horra verlagert das, was der zeichnerische Prozess an Tonalität erzeugt, in eine inhaltliche Dimension: Das Motiv selbst wird zum Resonanzkörper – Ahnung wird gegenwärtig. Das Gegenwärtige generiert sich aus der Erinnerung, erhält eine Schärfe, die unvermutet abdriften kann. Aber die dem Abdriften eingeschriebenen Zeichen machen Gegenwärtiges unerbittlich.

Ich habe vor nicht langer Zeit jemanden kennengelernt, der auf einem Auge – eine Art Infarkt erlitten hat. Das Auge sieht etwa ein Drittel relativ scharf. Zwei Drittel verblassen. Jedoch wird dieses eine Drittel zeichenhaft als Qualifikation des Ganzen erlebt.

Bei Sandra Vásquez de la Horra verbinden sich Mimik und Gestik, häufig im Zusammenspiel mit Schrift, in einer Intensität, die den assoziativen Aktionsraum mit einem feinen Sirren erfüllt.

Dieser verbissen blickende Totenkopf, wie ein Überbleibsel aus der Somme-Schlacht 1916, verlangt – verdammt noch mal – nach der ,ewigen Ruhe‘. ,Put me in the Flor‘, steht auf der Zeichnung. Dies verlangen auch die von Pinochet Ermordeten, sofern sie nicht lebendigen Leibes aus den Flugzeugen ins offene Meer gestürzt wurden.

Sandra Vásquez de la Horra erlebt Welt organisch, ekstatisch, exzessiv, asketisch, introspektiv und ironisch. In ihrem denkenden Körper fokussiert sich das Drama als eine Art Menschheitsgeschichte: Liebe, Hass, Melancholie, Krieg und Tod. All dies war vom alt- testamentarischen Gott so gewollt, als er beim Turmbau von Babel die Menschen über die Sprache entzweite. Körperliches Denken ist selten geworden. Das Bestreben heute besteht in einer Versinnlichung der Begriffe. Sandra Vásquez de la Horra geht den umgekehrten Weg. Ihre Zeichnungen sind Gerinnungen – „eine Kuh melken und ihr anschließend die Milch über den Kopf schütten“ (Nicanor Parra) –, schattenhaft, seismografisch, fragil und urwüchsig. Sie besitzen eine physiognomische Präsenz. Merkwürdig, wie ihre Gebilde und Figuren schauen oder gucken: aus dunkler Ferne, mit heller Wachsamkeit. – Die Zeichnungen von Sandra Vásquez de la Horra sind Brandmale.

In seinen nachgelassenen Schriften schreibt der wunderbare Roberto Bolaño (1953– 2003) über ,Krankheit und Kafka‘: „Ich nehme an, ich will sagen, dass Kafka begriff, dass Reisen, Sexualität und Bücher Wege sind, die nirgendwohin führen, auf die man sich aber dennoch begeben muss, um sich zu verirren und wieder zu finden, oder um etwas zu finden, was auch immer, ein Buch, eine Geste, einen verlorenen Gegenstand, irgend etwas, vielleicht eine Methode, mit etwas Glück: das Neue, das, was immer schon da war.“ (,Der unglückliche Gaucho’, München 2006, S. 168)

Fügen wir dem Buch, in diesem Zitat, das Kunstwerk bei, und ich glaube, dann sind wir ganz nahe bei Sandra Vásquez de la Horra.